Aus dem Buch "Das Geheimnis eines gesunden Rückens" von Nina Ruge

Dr. Kosarev: »Ich bin ein Anhänger der Kombination von Schulmedizin und ergänzender Medizin.«

Dr. Alexander Kosarev, Arzt für Gerontologie und Akupunktur, begann seine Ausbildung in der Kunst der Akupunktur bereits ab dem siebten Lebensjahr.

Sein Nachbar in St. Petersburg war ein chinesischer Arzt, der in der Sowjetunion illegal arbeiten musste und der ihm neben der Akupunktur sowohl Chinesisch als auch die Lehre des »Gan« beibrachte. Dies ist die Lehre von der »Lebenskraft«, von deren Stärke in Körper und Seele des Patienten die Heilungschancen abhängig gemacht werden. »Gan« steht für den Willen zu leben und gesund zu werden. Dr. Kosarev lernte neun Jahre bei ihm. Später studierte er Psychologie, chinesische Sprache sowie Medizin. 1990 kam Dr. Kosarev nach München. Er arbeitete zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Ludwiu-Maximilians-Universität. Seit 1997 ist er in seiner Privatpraxis für Präventive Gerontologie und Akupunktur in München tätig.

NINA RUGE: Was muss ein hervorragender Akupunkturarzt an Kenntnissen haben, um rund um die Wirbelsäule wirklich gut behandeln zu können?
DR. ALEXANDER KOSAREV: Er muss den Rücken des Menschen anatomisch extrem gut kennen. Viele Akupunktur-Fortbildungskurse lassen den Rücken aus, weil er so komplex ist. Gerade im Rückenbereich ist die Behandlung diffizil, weil die Nadeln sehr nah an die Schmerzpunkte gesetzt werden müssen.

Wie behandeln Sie einen akuten Bandscheibenvorfall?
Die Nadel muss schräg zwischen zwei Querfortsätzen der Wirbelkörper gesetzt werden, möglichst nah an dem Bandscheibenvorfall – und das mehrere Zentimeter tief. Die exakte Tiefe hängt natürlich individuell von der Statur des Patienten ab, unter anderem von der Dicke der Fettschicht und Muskulatur. Jedenfalls muss die Nadel in der Nähe einer Nervenwurzel enden. Zum Üben habe ich anfangs unter einem Bildwandler, also unter einem mobilen Röntgengerät, die Nadeln gesetzt.

Wie viele Nadeln setzen Sie?
Auf der Höhe des Bandscheibenvorfalls setze ich zwei tiefe Nadeln – zu beiden Seiten. Anhand der Pulsdiagnose setze ich Nadeln auch an weiteren Punkten.
Die Chinesen rechnen diese Punkte zu den »Fünf Wandlungsphasen«. Doch eine eindeutige wissenschaftliche Bestätigung für die Wirksamkeit dieser Nadeln fehlt bis heute. Ich habe allerdings gute Erfahrungen damit gemacht.
Die chinesische Theorie fordert, auch regionale Punkte zu nutzen, das heißt. Kürzere Nadeln werden in die Muskeln der Schmerzgebiete gesetzt, um die Durchblutung zu fördern und zu entspannen.

Wie wirken die langen Nadeln?
Das nennt man »Gate-Control-Theorie«. Der Reiz, der von der Nadel ausgeht, wird von den Nerven über das Rückenmark zum Gehirn geleitet. Das ist aber kein Schmerzreiz. Wenn der Nerv nun aber vorher einen Schmerzreiz vom Bandscheibenvorfall geleitet hatte, wird dieser Reiz durch den sanfteren der Akupunkturnadel ersetzt. Und der Schmerz klingt ab. Und wenn Sie die Nadel rausnehmen, ist der Schmerz wieder da.
Wenn Sie die Nadeln mindestens 30 Minuten lang setzen, und das in mehreren Sitzungen hintereinander, dann lernt der Nerv gewissermaßen, den Schmerzreiz zu ersetzen. Außerdem wirkt die Durchblutungsförderung und Entspannung der kurzen Nadeln nachhaltig auf die Muskulatur.

Gibt es noch weitere Erkenntnisse über die Wirkung der langen Nadeln?
Es zeichnet sich immer stärker ab, dass der Nadelreiz Stammzellen aus dem Rückenmark anlockt. Das dauert einige Minuten, bis sie auf den Reiz reagieren, doch dann wandern sie offenbar in die Reizregion ein – also in den Krankheitsbereich – und helfen elementar bei der Heilung. An Tieren konnte dieser Effekt bereits nachgewiesen werden. Die wissenschaftliche Untersuchung und Wirkung beim Menschen ist bislang nicht durchführbar. Neue Methoden der Stammzellenmarkierung werden da Aufschluss bringen. Es gibt jedoch verschiedene andere nachgewiesene Wirkungen der Akupunktur wie Verbesserung der Durchblutung und Entspannung der Muskeln. Die Voraussetzung für anhaltenden Erfolg, sei es wegen der Anlockung von Stammzellen oder aus anderen, noch nicht bekannten Gründen, scheint jedenfalls zu sein, dass mindestens 15 Behandlungen ä 30 Minuten durchgeführt werden, im akuten Zustand sogar täglich. Später kann man auf zweimal wöchentlich reduzieren.

Kann Akupunktur ALLEIN die Schmerzsituation beim akuten Bandscheibenvorfall in den Griff kriegen?
Meine Empfehlung: in der akuten Phase immer zunächst ein entzündungshemmendes und nervenlähmendes Mittel spritzen – und dann, zwei Tage später, mit der Akupunktur beginnen. Manche Patienten lehnen aus ideologischen Gründen die »chemischen Medikamente« ab. Bei diesen Patienten hatte ich auch gute Erfolge, aber die Behandlung dauerte durchschnittlich länger.

Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Akupunktur gibt es überhaupt?
Ich habe für meine Doktorarbeit in Großhadern/München über 800 Arbeiten zu dem Thema analysiert. Es gibt gute Studien über die Wirksamkeit der Akupunktur bei Schmerzen, allergischen und degenerativen Erkrankungen. Was überein stimmend nachgewiesen werden konnte: Bei Knochenschmerzen muss man in die Nähe des Knochens stechen, bei Hautschmerzen in die Haut, bei Muskelschmerzen in den Muskel. Das bestätigen durchaus die Schriften des »Nan Jing« aus dem 8. Jahrhundert nach Christi.

Sie haben 30 Jahre Erfahrung mit Akupunktur. Bei welchen Beschwerden des Rückens hilft Akupunktur besonders gut?
Bei allen degenerativen Erkrankungen, das heißt bei Osteoporose, Osteochondrose und Osteoarthrose. Diese Erkrankungen haben auf Zellebene dieselbe Ursache. Nämlich: Durch Angriffe von Sauerstoffradikalen werden Mutationen im Zellkern hervorgerufen, was die Ausführung der Zellfunktionen beeinträchtigt. Dadurch werden Stoffwechselendprodukte in der Zelle angehäuft, die den degenerativen Alterungsprozess bewirken beziehungsweise beschleunigen. Natürlich wirken hier auch genetische Prägungen. Akupunktur kann solche Alterungsprozesse verlangsamen – durch Hemmung der membrangebundenen Adenylcyclase
aktiviert sie die Selbstheilungsprozesse der Zelle.

Kann Akupunktur einem Stenosepatienten helfen?
Nur bezüglich der Schmerzlinderung. Allerdings funktioniert Akupunktur nicht als alleinige Behandlungsmethode bei chronischen Schmerzen. Als chronischen Schmerz definieren wir Schmerzen, die früher lediglich unter Belastung aufgetreten sind, nun aber permanent da sind. Zudem wird ein chronischer Schmerz als »brennend« beschrieben – und die psychische Beeinträchtigung für den Patienten ist wegen Schiafmangels und Dauerschmerzes groß. Der Hintergrund: Auf der Ebene des zweiten oder dritten Neurons (dort werden die Nervensignale auf ihrem Weg zum Gehirn umgeschaltet und weitergeleitet), also im Rückenmark beziehungsweise Thalamus oder im Limbischen System des Gehirns, findet ein »Pain-Memory« statt, eine dauerhafte Programmierung auf die Empfindung »Schmerz«. Im schlimmsten Fall bleibt die Schmerzempfindung auch dann noch bestehen, wenn das Körperteil, in dem der Schmerz lokalisiert war, durch Amputation oder Ähnliches gar nicht mehr existiert. Das wäre dann ein klassischer Fall von Phantomschmerz.

Wann wird ein Schmerz chronisch?
Das ist individuell sehr verschieden. Es hängt von der Dauer und der Stärke der Schmerzbeschwerden ab. Auch individuelle Veranlagung und Erziehung haben einen starken Einfluss. Zum Beispiel wissen wir, dass Kinder, die über Weinen oder
Schmerzgebrüll viel Aufmerksamkeit und Zuwendung bei den Eltern provozieren können, später als Erwachsene leichter chronischen Schmerz entwickeln. Und: Personen, deren Eltern in ihrer Kindheit unter chronischen Schmerzen litten, scheinen dafür auch stärker prädestiniert zu sein. Auch Patienten mit Serotoninmangel im Zentralnervensystem sind häufiger betroffen.

Und Akupunktur kann hier nicht helfen?
Das ist tatsächlich ein längerer Weg zur Heilung – wenn es denn einen gibt. Zunächst muss man Psychopharmaka wie Antidepressiva oder Neuroleptika einsetzen, die auf Zellebene einen Prozess des Schmerzvergessens stimulieren. Akupunktur kann nur unterstützend helfen. Vor allem gilt hier eins: Schmerzende Stellen dürfen keinesfalls direkt per Akupunktur gereizt werden! Nur Distanz-Punkte sind für Akupunktur erlaubt – alles andere verstärkt den Schmerz.

Manche Akupunkturärzte behandeln äußerst schmerzhaft
Dann ist da etwas nicht in Ordnung. Entweder die Nadel ist schlecht – oder die Technik stimmt nicht. Manche erhöhen den Akupunkturreiz durch das Drehen der Nadel. Es gibt allerdings bis heute keinerlei Beweise dafür, dass das die Wirkung der
Behandlung steigert.

Was kann der Patient dazu beitragen, dass die Akupunktur optimal wirkt?
Sich entspannen, am besten einschlafen. Manche verkrampfen sich in Angsterwartung von Schmerz. Dann spüren sie vielleicht die Nadel ein bisschen. Normalerweise ist aber eine Akupunktur völlig schmerzfrei.

Wieso blutet es eigentlich nicht, wenn der Akupunkteur die Nadel setzt?
Der Akupunkteur muss natürlich wissen, wo Adern verlaufen, und darf dort nicht stechen. In den anderen Bereichen sind die Kapillaren so klein, dass die ebenfalls feine Akupunkturnadel nicht zu nennenswerten Blutungen führen kann.

Welche Technik des Nadelsetzens verwendet der Akupunkteur?
Schnell durch die obere Hautschicht stechen – und dann langsam durch das tiefere Gewebe, damit keinerlei Verletzungen auftreten. Es gibt zusätzlich noch verschiedene Techniken, die in den alten Texten beschrieben sind. Ihre Vorteile ließen sich in den experimentellen Versuchen bis jetzt nicht bestätigen.

Konnten Sie mit Akupunktur herausragende Heilerfolge erzielen?
Ja, häufig – vor allem kann ich eine schnelle Verminderung von Schmerz bewirken. Für sehr wichtig halte ich es, den Patienten von vornherein darüber aufzuklären, wie viele Sitzungen von welcher zeitlichen Dauer für ihn vonnöten sein werden, um einen deutlichen Heilerfolg zu erzielen. Denn wenn wir davon ausgehen, dass das Anlocken der Stammzellen aus dem Knochenmark stattfindet, verlangt es nach mehreren Behandlungen (bis circa zwei Drittel des Schmerzes verschwunden sind). Im Übrigen bin ich ein Anhänger der Kombination von Schulmedizin und ergänzender Medizin wie Akupunktur. Die Heilerfolge sind bei einer gemeinsamen Anwendung dieser beiden Schulen am größten.

Das Buch von Nina Ruge:

»Das Geheimnis eines gesunden Rückens. Wege zum aufrechten Gang«
ist im Buchhandel erhältlich unter der ISBN-Nr.: 3550078951